Koblenz
"Selber erfahren", so das Motto des Rollstuhlprojektes der Ergotherapieschüler aus Koblenz. Am 2. Juli 2015 eroberten die Schüler und Schülerinnen des Mittelkurses in Zweiergruppen mit einem Rollstuhl die Stadt. Ein Rollstuhlfahrer, eine Begleitung und ein Rollenwechsel nach jeweils drei Stunden. Hier der Erfahrungsbericht von Ergotherapieschülerin Madita Bolze:
Zwei Mädchen, die zum Shoppen in die Stadt fahren. Soweit nichts Erstaunliches. Doch was, wenn eine von beiden im Rollstuhlstuhl sitzt?
Von der Schule aus geht es los mit dem Bus in die Stadt. Ich sitze zuerst im Rollstuhlstuhl, Anna Stamm begleitet mich. An der Bushaltestelle angekommen öffnet der Busfahrer die Hintertür für uns und senkt etwas ab, jedoch ist immer noch eine große Lücke zwischen Bus und Bordstein. Wir sind uns beide unsicher: Müssen wir jetzt irgendwie diese Lücke überwinden oder kommt der Busfahrer um die Rampe auszuholen? Okay, der Busfahrer kommt zu uns raus. Ich fühle mich etwas unbehaglich, weil jetzt alle Aufmerksamkeit auf uns gerichtet ist und der Busstopp wegen uns länger dauert als gewöhnlich. Die Busfahrt wird zu einer holprigen Angelegenheit. Bei jedem Bremsen kippt der Rollstuhlstuhl leicht, trotz festgestellter Bremsen und ich muss mich zusätzlich mit der Hand an der Stange festhalten, damit ich nicht umkippe.
Im Einkaufszentrum wollen wir runter in den Buchladen, doch wo ist der Aufzug? Endlich gefunden, ganz im hinteren Eck. Mit uns steigt ein Pärchen mit Kinderwagen in den Aufzug. Das Kind ist ca. zwei Jahre alt und schaut mich mit große Augen an. „Ja das Mädchen hat einen Kinderwagen für Große“, erklärt die Mutter. Der Weg vom Aufzug zum Buchladen ist ewig und der Boden ist uneben. Es geht immer wieder leicht bergauf und wieder hinab, das ist mir früher nie aufgefallen. Anna bietet an, mich zu schieben doch ich will selber fahren, auch wenn es nach einer Zeit echt anstrengend ist.
Erste Erkenntnis im Buchladen: Buchtische sind doof, ich kann nichts sehen, die vorderen Bücher kann ich noch erkennen, aber die Hinteren? Keine Chance, geschweige denn dass ich dran komme. Das gleiche bei den Regalen. Mit meinen 1,64 Metern Körpergröße komme ich ja so schon gerade so an die oberste Reihe, aber jetzt kann ich es vergessen. Hier brauche ich Hilfe, wenn ich ein Buch aus der oberen Reihe haben möchte. Gut, gucke ich mir eben die unten liegenden Bücher an.
Als nächstes wollen wir in einen Schmuckladen und in den H&M. „Puh den ganzen Weg wieder zurück“, stöhne ich innerlich, aber ich will mich trotzdem nicht schieben lassen. Warum? Ich glaube es ist Stolz, ich kann es selber, also will ich es auch selber machen. Wenn ich schon nicht oben an das doofe Buchregal dran komme, will ich wenigstens so viel wie möglich selber fahren, selbst wenn es anstrengend ist.
Auf dem Weg achte ich jetzt bewusst auf die Blicke der Leute, die meisten gucken kurz und dann wieder schnell weg. Ich verstehe die Reaktion. Klar fällt ein Rollstuhlfahrer auf, klar guckt man hin. Ich frage mich, was sie wohl denken? Fragen sie sich, warum ich im Rollstuhlstuhl sitze? Haben sie Mitleid?
Im Schmuckladen bin ich der Elefant im Porzellanladen: Ich muss aufpassen, dass ich nichts herunterreiße oder umstoße, aber es ist nicht so eng wie ich gedacht hatte.
Danach geht es in den H&M. Hier gibt es nur kleine Gänge. Ich passe, wenn überhaupt, gerade so durch. Ständig nehme ich die Hälfte der Klamotten mit, bleibe daran hängen. Auch hier wieder: Will ich etwas haben, was oben hängt, muss ich Anna um Hilfe bitte. Doch wo ist sie? Ich kann nicht über die Kleiderständer gucken.
Als wir uns wiederfinden suche ich mir etwas zum Anprobieren. Wir fragen die Verkäuferin nach einer großen Kabine. Bedrückt schaut sie uns an: "Entschuldigung wir sind eine alte Filiale, wir haben hier nur die Kleinen.“ Also versuche ich in die kleine Kabine zu fahren. Der Gang zwischen Wand und Kabine ist echt eng und die Kabine wird mit einer Tür verschlossen, aber irgendwie schaffe ich es.
Das Oberteil, was ich anziehe, sieht an mir im Rollstuhl sitzend einfach nur seltsam aus. Also wieder ausziehen. Ich versuche aus dieser verdammt engen Kabine rauszukommen. Ich muss rückwärts raus, stoße ständig irgendwo an und muss wieder vorfahren und korrigieren. Dabei komme ich mir vor wie ein Lastwagen, der aus einer viel zu kleinen Parklücke raus will - fehlt nur noch der Rückwärtspieper.
Jetzt wollen wir auf die Fußgängerzone, aber wie kommen wir dahin? Wir suchen die Unterführung. Hier ist der Berg jedoch so steil, dass Anna mir helfen muss, vor allem bei der Hitze ist es einfach zu anstrengend. Auf der Fußgängerzone springen ständig im letzten Moment mit einer gemurmelten Entschuldigung Leute zur Seite, die fast über mich gestolpert wären. Klar, ich bin nicht in ihrem Blickwinkel, sie gucken über mich drüber.
Puh, was bin ich froh, als wir endlich tauschen. Ich bin nass geschwitzt. Vor allem mein Po, der nebenbei auch echt platt gesessen ist, und meine Oberarme und Hände tun weh. Die ersten Momente, in denen ich wieder stehe fühlen sich sehr seltsam an. Als wären meine Beine aus Pudding. Trotzdem bin ich erleichtert, mich endlich wieder frei bewegen zu können.
Alles in allem war es ein langer, anstrengender aber schöner Tag mit vielen interessanten und lehrreichen Erfahrungen!